Heute ist Reformationstag. Heute wird daran erinnert, dass Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg genagelt und damit die Spaltung der Kirche ausgelöst hat. So weit die Legende. Ob das öffentliche Aushängen der Thesen im Jahr 1517 tatsächlich so stattgefunden hat oder Luther seine Thesen „nur“ an Bischöfe und Gelehrte schickte, ist nicht endgültig geklärt. Dass seine Thesen die Reformation entfachten, ist jedoch unstrittig. Luther ging es in erster Linie um den Ablasshandel und die Vergebung der Sünden, die nicht käuflich ist. Die Reformation steht allerdings für einen weitaus größeren Umbruch: einen neuen Blick auf das Evangelium.
Die Grundidee ist einfach: Das neue Testament wurde in Griechisch verfasst – der Verkehrssprache in der Antike. So konnten alle Menschen, die lesen konnten, sich das Evangelium selbst erschließen – und sie waren auch dazu angehalten. Im Mittelalter ging das nicht mehr. Die Bibel war auf Latein und somit in einer Sprache geschrieben, die lediglich Gelehrte und Priester verstanden. Die Übersetzung der Bibel in die jeweiligen Landessprachen eröffnete die frohe Botschaft wieder einer breiten Leserschaft, die fortan für das Textverständnis nicht mehr auf die Vermittlung durch Priester angewiesen waren.
Ich bin zwar nicht evangelisch und so ist der heutige Tag für mich kein Feiertag. Trotzdem feiere ich, dass heute die Bibel in den verschiedenen Sprachen eine Selbstverständlichkeit ist – ob in der evangelischen oder der katholischen Kirche. Heute hat jeder die Möglichkeit, die Evangelien zu lesen – und sich seine eigenen Gedanken dazu zu machen. Und ich finde, das ist auch dringend notwendig.
Schauen wir doch einmal auf die Kirchen in Deutschland. Der Anteil der Christen – katholisch und evangelisch zusammengenommen – liegt inzwischen unter 50 Prozent. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist also andersgläubig oder aus der Kirche ausgetreten. Und dieser Trend setzt sich fort. Wer will es schon irgendwem verübeln? Die immer neuen Skandale um sexuellen Missbrauch, ein fragwürdiger Umfang mit der Aufarbeitung, das veraltete Frauenbild, die angestaubte Moral, erzkonservatives Denken – all das ist nicht gerade einladend. Dabei bedeutet das Abwenden von der Kirche nicht das Abwenden von der Spiritualität. „Spiritual but not religious“ lautet der Name einer neuen Bewegung, die sich wachsender Beliebtheit erfreut – sei es nun bewusst oder unbewusst. „Ich glaube schon, dass da etwas Höheres ist“, hört man häufig. Verbunden mit der Aussage, für diese Überzeugung keine Kirche zu benötigen.
Ich finde: Wir müssen es uns gar nicht so kompliziert machen. Das Evangelium ist heute so aktuell wie eh und je – auch wenn diejenigen, die sich als die wahren Vermittler verstehen, zunehmend aus der Zeit fallen. Es lohnt sich, hineinzuschauen und sich seine eigenen Gedanken zu machen. Denn dann erkennt man, dass am Ende alles zusammenhängt.
Vor Jahrtausenden war es das Judentum, das als Instanz den Anspruch hatte, den wahren Glauben zu kennen und zu bewahren. Jesus hat eine neue Perspektive darauf eröffnet, die ich in diesem Blogbeitrag näher beschrieben habe. Die Reformatoren machten die Heilige Schrift wieder allen Menschen zugänglich, indem sie sie in die Landessprachen übersetzten. Und wir dürfen sie heute neu interpretieren, damit sie unserem Leben einen Mehrwert bringt.
In Johannes 1,1 (Einheitsübersetzung) heißt es:
„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.“
Und später – in Johannes 1,14 – dann:
„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“
Das bedeutet: Die Bibel ist nicht Gottes Wort, sondern das Zeugnis von Gottes Wort. Und Jesus Christus ist das Fleisch gewordene Wort Gottes, von dem die Evangelien berichten. Diese Idee ist ein echter Gamechanger. Denn sie befreit uns davon, an Worten zu kleben. Sie lädt uns ein, die dahinterstehende Botschaft zu sehen. Nicht, was aufgeschrieben wurde, ist entscheidend, sondern was damit gemeint ist. Es geht um die Auslegung. Es geht um die Interpretation der Botschaft im Licht der heutigen Zeit. Es geht um eine Reformation 2.0.
Die Bibel ist die Grundlage, die die Welt erklärt – auch die heutige noch. Wir müssen sie nur richtig verstehen lernen. Zusammenhänge zu finden und zu erläutern, die Brücke zwischen meinen christlichen Wurzeln und der modernen Spiritualität zu bauen – das sehe ich als meine Aufgabe. Kleiner hab ich’s nicht. Daher sei gerne mit dabei!