„Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.“ Dieses Zitat wird Marie Antoinette zugeschrieben. Gut, ob sie es so gesagt hat, sei einmal dahingestellt. Und dass das im französischen Original verwendete „Brioche“ keine Sahnetorte bezeichnet, sondern ein süßes Brot, auch. Es geht um etwas anderes: Und zwar, dass wir alle Dinge immer nur aus unserem eigenen Blickwinkel betrachten – zunächst zumindest.
Wenn wir uns in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer hineindenken, sprechen wir von Empathie. Und wenn wir uns mit historischen Texten – wie es auch die Evangelien sind – befassen, sollten wir die Empathie immer im Hinterkopf behalten. Die Beispiele und Gleichnisse, die darin gegeben werden, sind ja nicht für uns gemacht, sondern richten sich an die Menschen der damaligen Zeit und ihren Erfahrungshorizont. Dadurch klingt manches vielleicht etwas altbacken. Und deshalb ist die Neuinterpretation dringend notwendig, um den Sinn hinter dem Ganzen in der heutigen Zeit richtig zu verstehen.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, den es zu beachten gilt: den Autor. Aus moderner Sicht gehen wir davon aus, dass Geschichtsschreiber sich um größtmögliche Objektivität bemühen. Das ist heute schon eine Illusion. Die Sicht der Dinge ändert sich mit dem Lauf der Zeit und dem wechselnden Zeitgeist. Historische Ereignisse werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten auch unterschiedlich bewertet. Der berühmte Historikerstreit, in dem es um die unterschiedlichen Ansichten zur Kriegsschuldfrage Deutschlands im ersten Weltkrieg ging, ist das beste Beispiel dafür.
Was die Menschen in modernen Zeiten nicht einmal schaffen, hatten die historischen Geschichtsschreiber nie zum Anspruch. Die Verklärung von Ereignissen war gang und gäbe, der Blick aus der eigenen Perspektive wurde nicht in Frage gestellt. Der Kontext spielt daher immer eine Rolle. Wenn wir antike Quellen verstehen wollen, müssen wir uns eindenken – in die Zeit, in der sie entstanden sind, und die Menschen, die die Texte aufgeschrieben haben. Nur so können wir den wahren Kern freilegen und letztlich zu einem neuen Bibelverständnis kommen.