Wer bist du?
Was macht dich aus?
Was ist deine Persönlichkeit?
Und wie bist du zu dem oder der geworden, der oder die du heute bist?
Wir alle erleben etwas – Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Gutes und Schlechtes, Forderndes und Langweiliges, Normales und Außergewöhnliches. Alles fließt in unsere Erinnerungen und Erfahrungen mit ein.
Daher hier die Antwort auf die eingangs gestellten Fragen:
- Wir alle sind die Summe unserer Erfahrungen.
Je älter man wird, desto mehr Situationen hat man in ähnlicher Weise schon einmal erlebt. Und die früheren Erfahrungen beeinflussen die Entscheidungen, die wir heute treffen. All die Traumata und Verletzungen, aber auch die guten Erfahrungen, haben Einfluss auf unsere Gegenwart.
In einem Podcast habe ich einmal ein schönes Bild gehört, das das Ganze noch einmal verdeutlicht: Das Leben gleicht einer Zugfahrt. Man sitzt im Wagon entgegen der Fahrtrichtung und blickt aus dem Fenster zurück. Wohin die Reise geht, weiß man nicht genau. Aber man sieht seine Vergangenheit. Die jüngsten Erinnerungen sind noch nah und klar, die ältesten sind in weiter Ferne kaum noch sichtbar. Alle zusammengenommen nehmen allerdings Einfluss, wohin die Zugreise hinführt.
Wenn wir also heute wissen wollen, wieso wir in welcher Weise handeln, sollten wir in unsere Vergangenheit blicken.
Leider ist der Mensch so, dass er die Vergangenheit verklärt. „Früher war alles besser“ ist ein Satz, der zeigt, dass vor allem die schönen Erinnerungen nachhallen. Unangenehmes wird verdrängt, weil es schmerzt. Hinzu kommt, dass vieles im Nebel der Vergangenheit unscharf bleibt. Man erinnert sich grob an etwas, aber nicht detailliert.
Wir brauchen also einen Schlüssel, mit dem wir die Tür zur Bibliothek unserer Erinnerungen entriegeln können, um in den Büchern unseres Lebens die wahren Geschehnisse nachzulesen.
- Dieser Schlüssel ist das Schreiben.
Das Aufschreiben kann Erinnerungen wecken. Dabei reicht eine Erinnerung aus, eine zweite zu wecken, die dann eine dritte weckt und so fort. Plötzlich entsteht ein klareres Bild unserer Vergangenheit. Mehr noch: Unsere heutigen Erfahrungen helfen uns einzuschätzen und neutral zu bewerten, wieso wir uns damals Verhalten haben, wie wir es taten.
Gerade bei den Verhaltensweisen, die wir nicht an uns mögen, decken wir auf diese Weise die Wurzeln auf. Wir werden sie dadurch noch nicht verändern. Aber das neue Wissen hilft, sie als Teil unserer Persönlichkeit anzunehmen, uns damit zu versöhnen und Vergangenes schließlich loszulassen. Das befreit uns von Dingen aus der Vergangenheit, die uns heute noch beschäftigen. Das wiederum erleichtert es uns, im Moment zu leben. In dem Moment können wir dann auf Basis unserer Vergangenheit unsere Entscheidungen treffen, ohne ein Sklave unserer Vergangenheit zu sein.
Klingt erstrebenswert, oder? Ich finde schon.
Daher: Lass uns loslegen. Vielleicht mit einer ersten kleinen Erinnerungsübung, die zunächst einen Einstieg bietet und nicht alle genannten Anforderungen erfüllen muss.
Die Aufgabe lautet:
- Was ist deine älteste Erinnerung?
Hier geht es nicht um eine komplette Geschichte, sondern um die Fragmente, die als Ruine aus den Zeiten unseres entstehenden Bewusstseins übrig bleiben und die wir mit archäologischem Forschungseifer als Anknüpfungspunkt nehmen können.
Meine älteste Erinnerung:
Ich war vier und war im Kindergarten. Ich fühlte mich groß und befand mich an einem Durchgang zwischen zwei Schränken, die einen Spielbereich vom Rest des Gruppenraums abtrennten. Ich hielt mich links und rechts an den Schränken fest und schwang immer so vor und zurück, ohne dass die Füße ihren Platz verließen. (Ich hoffe, man versteht, was ich beschreiben will.) Hier endet das Erinnerungsfragment bereits.
Gut, für sich genommen ist das jetzt erstmal wenig hilfreich. Doch ich will dir zeigen, wie es jetzt weitergehen kann:
Die Erinnerung hat mich zurück in meine Kindergartenzeit gebracht. An was erinnere ich mich noch?
Unsere Abschlussfahrt machten wir damals nach Wuppertal in den Zoo. An den Zoobesuch erinnere ich mich nicht, aber an die Fahrt in der Schwebebahn. Wir haben abschließend im Kindergarten übernachtet. Ich hatte Bauchschmerzen von dem Abendessen und konnte erst nicht einschlafen. Es gab irgendwas mit Würstchen und damals mochte ich Würstchen nicht sonderlich. Am nächsten Morgen sollten wir unsere Frühstücksbrötchen selber schmieren, was ich in dem Alter zu Hause noch nicht selbst machen musste. An dem Morgen im Kindergarten habe ich es dann eins der ersten Male versucht. Ich wollte eine Brötchenhälfte mit Marmelade beschmieren, obwohl ich eigentlich meist Nuspli aß. Das gab es im Kindergarten aber nicht. In der Marmelade waren Fruchtstücke und eine der Erdbeeren hing in einer dieser Luftblasen im Brötchen fest, die beim Backen entstehen. Ich verstand das nicht und versuchte die vermeintliche Marmelade weiter auf dem Brötchen zu verteilen. Ich fühlte mich unter Druck. Eine der Erzieherinnen mahnte, dass ich mich beeilen sollte, andere seien schon fast fertig. Das hat mich weiter gestresst. Ich habe geweint.
Das ist doch schon mal konkreter. Und tatsächlich aufschlussreich: Bis heute mag ich es nicht, Erwartungen nicht zu erfüllen. Dinge nicht so gut zu können, wie die breite Masse. Anders, als die anderen zu seien. Mich unterdurchschnittlich zu fühlen. Mich auf Neues offen einzulassen und dann zu scheitern, beziehungsweise nicht so gut wie andere darin zu sein, fällt mir schwer und verhindert hin und wieder, dass ich Neues offen ausprobiere.
Damit habe ich dann die nächsten Ansatzpunkte:
- Welche Momente fallen mir ein, wo ich mich ähnlich gefühlt habe wie bei dem Abschlussfrühstück im Kindergarten?
- Wie habe ich dann reagiert?
- Wie hat sich mein Vorgehen verändert? Oder hat es das gar nicht?
- Und wie möchte ich künftig mit solchen Situationen umgehen?
- Wie gehen andere mit solchen Situationen um?
Jede Frage eröffnet gleich mehrere neue. Und die Antworten geben mir die Möglichkeit, aus meiner Vergangenheit für meine Zukunft zu lernen. Dafür muss ich meine Vergangenheit kennen. Und wenn sie aufgeschrieben ist, habe ich ein Nachschlagewerk, in dem ich noch einmal Nachschauen kann, wenn ein anderes Thema in meinen Erinnerungen aufkommt. Aus meiner geistigen Bibliothek wird eine echte Bibliothek.
Ganz wichtig für dich: Es geht hier natürlich nicht um irgendeine literarische oder erzählerische Qualität. Es sind deine Erinnerungen, die allein dir gehören und die niemand anderes zu sehen bekommen braucht.
In diesem Sinne wünsche ich dir viel Spaß beim Ausprobieren und beim Eintauchen in deine Vergangenheit!